Fast keine Genesenen auf Intensivstationen: Ärzte kritisieren RKI-Kürzung beim Immun-Status

Der Genesenen-Status schrumpft in Deutschland auf drei Monate. Das ist unter Experten, darunter der Virologe Hendrik Streeck, umstritten. Der Mediziner Thomas Voshaar sagt: Auf Intensivstationen landen genesene Patienten nach einer Neuinfektion quasi nie.

Mit der 2G-Regel stehen bestimmte Grundrechte faktisch unter Impf-Vorbehalt: Ohne aktuellen Impfstatus ist in Deutschland der Besuch vieler Geschäfte, von Schwimmbädern oder vieler Veranstaltungen nicht möglich. Selbst Ausgangssperren für Ungeimpfte gibt es in Hotspots immer noch, etwa in Brandenburg oder Baden-Württemberg.

Den Geimpften wurden bislang allerdings die Genesenen gleichgestellt – und das ein halbes Jahr lang: Wer, belegt durch einen positiven PCR-Test, nachweislich mit Corona infiziert war, galt sechs Monate als genesen. Er oder sie hatte dann ein halbes Jahr lang einen 2G-Nachweis, und zwar unabhängig vom Impfstatus und unabhängig davon, ob er überhaupt erkrankt war oder nicht.

Quelle: https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/medizinisch-schwer-begruendbar-fast-keine-genesene-auf-intensivstation-aerzte-kritisieren-rki-kuerzung-beim-immun-status_id_41655332.html


Genesen-Status vom RKI "halbiert"
Wegen der erheblichen Grundrechtseinschränkungen für Menschen ohne 2G-Status liegt es nahe, dass die Bundesregierung eine Verkürzung dieses Status sehr gut begründen muss. Umso überraschender kam letzte Woche die Nachricht, dass das Robert-Koch-Institut (RKI) den Genesen-Status von sechs auf drei Monate reduziert hat. Damit werden Genesene herabgestuft - ganz im Gegensatz zum Beispiel zur Schweiz: Dort wurde wegen neuer Erkenntnisse zur Dauer der Impf- und Booster-Wirkung zwar auch die Gültigkeitsdauer der sogenannten Zertifikate verkürzt, allerdings nur auf 270 Tage (also neun Monate) und zudem einheitlich für Genesene und Geimpfte.

"Das ist wirklich ein Problem", sagt Virologin Brinkmann zur neuen PCR-Strategie
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FOCUS Online/Wochit "Das ist wirklich ein Problem", sagt Virologin Brinkmann zur neuen PCR-Strategie
Die Begründung des deutschen Gesundheitsministeriums zur Status-Halbierung bei Genesenen lautet: "Die Dauer des Genesenenstatus wurde von 6 Monaten auf 90 Tage reduziert, da die bisherige wissenschaftliche Evidenz darauf hindeutet, dass Ungeimpfte nach einer durchgemachten Infektion einen im Vergleich zur Deltavariante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer erneuten Infektion mit der Omikron-Variante haben."

Impfstoffe: Nach drei Monaten lässt Schutz bereits nach
Das Ministerium von Gesundheitsminister Karl Lauterbach empfiehlt eine Booster-Impfung bereits nach drei Monaten - begründet wird das mit dem rapide nachlassenden Schutz der Impfstoffe: "Studienergebnisse zeigen, dass die Wirksamkeit der Grundimmunisierung gegenüber symptomatischer Erkrankung durch die Omikron-Variante mit der Zeit deutlich nachlässt und im Vergleich zur Wirksamkeit gegenüber der Delta-Variante deutlich geringer ist. Durch eine Auffrischimpfung drei Monate nach der Grundimmunisierung kann ein guter Schutz gegenüber der Omikron-Variante erzielt werden", so das Gesundheitsministerium.

Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie an der Uniklinik Bonn.
Rolf Vennenbernd/dpa/Archivbild Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie an der Uniklinik Bonn.
Hendrik Streeck: "Infektion schützt so gut wie Impfung"
Während die im Zeitverlauf nachlassende Wirkung der Impfstoffe also bereits durch den Druck bei der Booster-Kampagne offensichtlich wird, sind viele Experten mit der Einschätzung der Bundesregierung zum Genesene-Status keineswegs d'accord.

In einer neuen Stellungnahme der Experten-Gruppe um den Infektiologen Matthias Schrappe zur Corona-Strategie ist zu lesen: "In Italien, Frankreich und Österreich gilt der Genesenenstatus 6 Monate, in der Schweiz bislang sogar 12 Monate (wenn durch einen Antikörpertest nach 3 Monaten eine ausreichende Immunität nachgewiesen wird). Dass dieser Status in Deutschland auf 3 Monate verkürzt wird, ist wissenschaftlich schwer nachzuvollziehen, daran ändern auch die vom RKI angeführten Studien nichts, die diesen Schritt belegen sollen."
Der Medizin-Statistiker Gerd Antes sagt gegenüber FOCUS Online: "Die vom RKI zitierten Arbeiten sind nicht dazu geeignet, eine Reduzierung des Genesenen-Status auf drei Monate zu rechtfertigen." Es sei "schon verwunderlich", warum etwa die Schweiz die Situation anders interpretiere als Deutschland.
Selbst innerhalb des Expertenrats der Bundesregierung ist der Schritt des RKI nicht unumstritten. Der Virologe Hendrik Streeck sagt zu FOCUS Online: „Ich sehe bei der Verkürzung der Genesenen-Dauer Diskussionsbedarf. Mit den verschiedenen Virusvarianten und den möglichen Kombinationen von Genesenen und Geimpften, also Genesen von einer Alpha Variante und reinfiziert mit Omikron, ist die Datenlagen natürlich unübersichtlich. Trotz allem zeigen alle Daten durch die Bank, dass im Durchschnitt der Schutz vor einem schweren Verlauf nach einer Infektion sehr gut ist. Der Schutz vor einer Infektion ist vergleichbar mit dem Schutz nach der Impfung.“
So will Lauterbach noch mehr Menschen in Deutschland zur Impfung bewegen
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Auch jüngste Daten der US-Seuchenschutzbehörde CDC erhärten die Einschätzung, dass eine bereits durchgemacht Infektion eine gute Schutzwirkung bietet; jedenfalls bezogen auf die vor einiger Zeit noch vorherrschende, gefährlichere Delta-Variante.

Die CDC-Daten zeigten sogar, dass bei Delta Nicht-Geimpfte, aber bereits Genesene besser vor einer (Neu-)Ansteckung geschützt waren als Geimpfte. Zwar sei im Fall einer erstmaligen Ansteckung das Risiko einer schweren Erkrankung für Ungeimpfte höher als für Geimpfte, so die CDC. Doch die Behauptung, dass bereits Genesene schlechter geschützt seien als Geimpfte, stützen die Daten eben nicht.

Wie viele Genesene liegen in den Kliniken?
Spannend ist daher die Frage, wie viele Genesene, die sich erneut anstecken, eigentlich so schwer krank werden, dass sie in der Klinik oder gar intensivmedizinisch behandelt werden müssen. FOCUS Online hat beim RKI und beim Bundesgesundheitsministerium nachgefragt, wie hoch der Anteil der Genesenen an den Krankenhaus- und Intensiv-Patienten ist. Eine Antwort darauf hatten weder das Ministerium noch das RKI.

Dr. Thomas Voshaar erklärt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Gesundheitsminister Jens Spahn das Moerser Modell
Stiftung Krankenhaus Bethanien Moers Thomas Voshaar erklärt NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Gesundheitsminister Jens Spahn das Moerser Modell
Der Mediziner Thomas Voshaar hat sich nun einen ersten Überblick verschafft. Der Chefarzt der Lungenklinik am Bethanien-Krankenhaus Moers wurde bekannt durch das "Moerser Modell", das durch eine möglichst geringe Beatmungs-Quote von intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Patienten die Überlebensrate erhöht. Jüngst lieferte sich Voshaar in der "Zeit" ein Streitgespräch mit dem Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery.

Voshaar hat seit dem Beginn der Pandemie 2020 zahlreiche Covid-19-Patienten in seiner Klinik behandelt - und dabei fiel ihm auf, dass kein einziger der schwer erkankten Männer und Frauen auf der Intensivstation vor ihrer Aufnahme in der Klinik schon einmal eine Corona-Infektion durchgemacht hatten.

Arzt startet eigene Genesenen-Abfrage
Er nutzte deshalb sein deutschlandweites Netzwerk von Krankenhaus-Medizinern und fragte 17 Kliniken nach ihren Erfahrungen zu diesem Thema ab. 13 davon antworteten und stellten anonymisiert Daten zur Verfügung. Das Ergebnis:

"Abgesehen von einigen Fällen auf einer Normalstation und einem unklaren Status gab es in den Kliniken keine Schwerkranken bzw. auf den Intensivstationen keine Fälle von wegen einer Covid-19-Erkrankung behandelten Patienten, die bereits vorher einmal genesen waren", berichtet Voshaar.
Die Kliniken, die Voshaar abfragte, lagen im Raum Stuttgart, Solingen, Kleve, Köln, Kassel, Nürnberg, Berlin, Dortmund, Hamburg, Hannover und in Moers.
Auch wenn es sich um keine bundesweit repräsentative Erhebung handle, hält Voshaar die Rückmeldungen aus den angefragten Kliniken für einen klaren Hinweis darauf, dass eine bereits durchgemachte Infektion tatsächlich ein guter Schutz vor Covid-19 ist - und die Verkürzung des Genesenen-Status damit medizinisch schwer begründbar sei.

Man müsse nach seiner Meinung schon sehr klar unterscheiden, ob man von einer Reinfektion bzw. nur einem positiven Testergebnis spreche oder ob eine Reinfektion auch zu einer schweren Erkrankung führe. "Es ist wirklich fatal, dass wir immer noch nicht über ausreichend Daten verfügen, um solche weitreichenden Entscheidungen auf einer soliden Bass treffen zu können", ärgert sich der Mediziner.