Willkürlich streng: Deutschlands Corona-Politik ist von gestern

Das Land hat sich in eine flächendeckende Ratlosigkeit hineindiskutiert. Das schmälert die Aussichten für eine allgemeine Impfpflicht – gut so, denn sie ist rechtlich bedenklich.

In der Debatte um eine allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 dreht sich gerade der Wind. Ein ganzes Land voller Virologen und Verfassungsrechtler hat sich in flächendeckende Ratlosigkeit hineindiskutiert. In der derzeitigen Gemengelage erschliesst sich nicht mehr, warum die Impfpflicht eine Lösung darstellen soll. Und das ist auch gut so – denn sie begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/der-wind-dreht-sich-die-impfpflicht-kommt-wohl-nicht-mehr-ld.1665236


Die Lage derzeit: Niemandem kann mehr begreiflich gemacht werden, wie alles zusammenhängt. Omikron ist hoch ansteckend, aber Kontaktpersonen müssen jetzt nicht mehr in jedem Fall in Quarantäne – und das, nachdem sich in fast zwei Jahren wohl insgesamt mehrere zehntausend Menschen wochenlang bei viel niedrigeren Inzidenzen isoliert haben. In Berlin werden die Kontakte infizierter Schulkinder teilweise nicht mehr verfolgt, weil es zu viele sind. PCR-Tests werden ebenfalls rationiert und folgen nicht mehr zwingend auf einen positiven Schnelltest.

Genesen: hier drei Monate, dort sechs
Der Status «genesen» hält in Deutschland seit Samstag plötzlich nur noch drei Monate an, wie das Robert-Koch-Institut am Montag mitteilte – angeblich neuester Stand der Wissenschaft. Österreich und die Schweiz müssten demnach Hinterwäldler sein, in Österreich gilt man für sechs Monate als genesen, in der Schweiz sogar für zwölf Monate. Haben die zwei Alpenländer noch keine neueste Wissenschaft, oder macht das die gute Bergluft?


Wenn Regeln willkürlich wirken, nimmt das Verständnis im Volk rapide ab. Sogar Bayerns Ministerpräsident Markus Söder zeigte sich am Wochenende nachdenklich bis geläutert: «Wir müssen künftig genauer und verständlicher begründen, was wir tun», sagte er in einem Zeitungsinterview mit dem «Merkur». Man müsse genau justieren, welche Regeln zwingend nötig, aber auch verhältnismässig seien: «Wir wollen ‹Team Vorsicht› und ‹Team Augenmass› zusammenbringen», so Söder.

«Team Vorsicht» hat gegenwärtig die Oberhand. Ist Deutschland übervorsichtig? Derzeit sind die Massnahmen hier laut dem Covid-Stringency-Index der Uni Oxford weltweit die strengsten. Die deutsche Inzidenz ist zwar hoch, im internationalen Vergleich aber im unteren Bereich. Die Einschränkungen scheinen also zu wirken. Es könnte aber auch sein, dass die Zahlen nicht stimmen – sei es, weil bei den Ämtern wieder einmal das Faxgerät ausgefallen ist, sei es, weil viele Corona-Infektionen niemals aktenkundig werden.

Das Recht, krank zu werden
An Augenmass hingegen schien es tatsächlich zu mangeln. Immer stärkere Eingriffe in die Grundrechte sorgten für steigenden Protest im Volk, nicht nur bei Ungeimpften. Das trieb auch die gesellschaftliche Mitte auf die Strasse. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind die «Montagsspaziergänger» nicht viele, aber es werden mehr. Und sogar der Obervirologe der Nation, Christian Drosten, plädiert jetzt dafür, die Dinge mehr laufen zu lassen. Warum die verpflichtende Impfung in dieser Lage einen Ausweg bieten soll, erschliesst sich immer weniger. Zumal sie rechtlich höchst umstritten ist.


Zwei anerkannte Verfassungsrechtler, nämlich Udo di Fabio und Hans-Jürgen Papier, meldeten sich jetzt in verschiedenen Tageszeitungen zu Wort. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit habe einen hohen Stellenwert, die Impfung sei ein schwerwiegender Eingriff und für diesen bedürfe es einer sehr sorgfältigen Begründung, waren sich beide einig. Jeder hat nämlich das Recht, den Schutz vor Krankheit für sich abzulehnen.

Bis jetzt halten Bundeskanzler Olaf Scholz und sein Gesundheitsminister Karl Lauterbach noch an der Impfpflicht fest. Sich auf einen Standpunkt zu versteifen, hat sich in der Pandemie jedoch schon oft als Fehler erwiesen. Es bleibt abzuwarten, wann die beiden Sozialdemokraten erkennen, dass sie sich hier verrannt haben.