„Das sind Menschen, die haben diese Achtung nicht verdient“, sagt Lauterbach

Bei „Anne Will“ waren sich CSU-Chef Söder und SPD-Politiker Lauterbach einig: Der Staat dürfe sich nicht von radikalen Gruppen erpressen lassen. Beide plädierten für eine Corona-Impfpflicht. Eine Medizinerin erklärte dagegen, wie sie „neun von zehn“ Personen von der Impfung überzeugen könne.

Mit Booster-Impfungen, Kontaktreduzierungen und Einschränkungen für Ungeimpfte versucht die Politik, die vierte Corona-Welle zu brechen. Während ohnehin schon gebeutelte Branchen wie der stationäre Einzelhandel oder das Veranstaltungswesen befürchten, noch mehr als bisher in Mitleidenschaft gezogen zu werden, befeuert die neue Variante Omikron in der Bevölkerung die Sorge vor einer Mutante, der Immunsystem und Impfstoffe nicht gewachsen sind.

Keine Frage: Das Coronavirus hat das gesellschaftliche Leben und mit ihm die Talkshows weiter fest im Griff.

Quelle: https://www.welt.de/vermischtes/article235483856/Anne-Will-Lauterbach-Menschen-die-diese-Achtung-nicht-verdient-haben.html

„Impfpflicht und Lockdown für Ungeimpfte – gewinnen Bund und Länder so die Kontrolle zurück?“, fragte Anne Will am Sonntagabend die Gäste in ihrer ARD-Show. Neben dem zugeschalteten bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU), dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach, dem innenpolitischen Sprecher der FDP-Fraktion, Konstantin Kuhle, und der Journalistin Cerstin Gammelin von der „Süddeutschen Zeitung“ hatte die Moderatorin auch die Notfallmedizinerin Carola Holzner eingeladen.

Diese schilderte in nüchternen Worten die angespannte Situation in den Notaufnahmen der Republik. „Wir haben ständig Betrieb, rund um die Uhr“, erläuterte die als „Doc Caro“ bekannte Ärztin und Medizinbloggerin. „Manche brauchen ein Intensivbett, und wir haben keins.“

Das anschließende Telefonieren auf der Suche nach einem freien Platz in der näheren oder oft auch weiteren Umgebung bedeute, ebenso wie der Transport dorthin, dass wertvolle Zeit verloren gehe, so Holzner.

Lauterbach sieht bei „Anne Will“ „Grund zur Sorge“
Eine Lage, deren Ende vor dem Hintergrund hoher Inzidenzen, einer verhältnismäßig geringen Impfquote und der neuen Variante nicht in Sicht ist. Daten aus Israel und dem Vereinigten Königreich über die Ausbreitung von Omikron unter den bereits Geimpften gäben „Grund zur Sorge“, stellte SPD-Politiker Lauterbach fest. „Da sieht man, dass die Omikron-Variante sich doch schneller durchsetzt, als wir gehofft hatten.“

Der Epidemiologe sprach sich für eine schnellstmögliche Booster-Impfung aus und stellte eine gute Schutzwirkung in Aussicht. „Die Wahrscheinlichkeit, dass Omikron sich bei der Booster-Impfung durchsetzen kann, ist sehr gering.“

In allen anderen Fällen sei die Gefahr höher, erklärte Lauterbach und resümierte: „Wir impfen jetzt wirklich gegen die Zeit.“ Die schnellstmögliche Booster-Impfung sei daher das Mittel der Wahl, um einen Lockdown zu vermeiden, den er nicht für wahrscheinlich halte, aber nicht ausschließen könne.

Auf die Frage von Moderatorin Anne Will, ob er hier schon als zukünftiger Gesundheitsminister gesprochen habe, antwortete Lauterbach ausweichend. „Da hat die SPD eine Reihe von Leuten, die das gut machen könnten“, druckste der Sozialdemokrat herum.

Umso deutlicher wurden seine Mitdiskutanten. Holzner betonte, sie kenne viele Kollegen, die sich, genau wie sie selbst, freuen würden, wenn Lauterbach – als jemand vom Fach – das Amt übernähme. Es gäbe keinen, der es so kompetent wie er ausfüllen könnte, fügte die Medizinerin hinzu und erntete dafür Dank beim sichtlich geschmeichelten Adressaten ihres Kompliments.

Auch Söder wünscht sich Gesundheitsminister Lauterbach
Sogar von der politischen Konkurrenz aus Bayern gab es Lob und Unterstützung. „Ich würde das begrüßen“, stellte CSU-Chef Söder mit Blick auf eine mögliche Berufung Lauterbachs klar. Dieser müsse sich nicht erst lange einarbeiten und verfüge über einen „Grundkompass“, der jetzt gebraucht werde.

„Wir sind zwar von ganz unterschiedlichen Polen her, aber wir hatten oft ähnliche Positionen; und ja, ich schätze und respektiere ihn“, führte der bayerische Ministerpräsident aus und stieß damit auf keinerlei Widerspruch in der Runde.

Für die recht prekären Corona-Verhältnisse in seinem Bundesland musste sich Söder hingegen rechtfertigen. Er machte dafür unter anderem eine traditionell starke Impfskepsis sowie einen Hang zu „esoterischen und anderen alternativen Heilmethoden“ verantwortlich.

Am Ende sei die Impfpflicht wahrscheinlich die einzige Chance, aus dem jetzigen Hin und Her herauszukommen. Diese werde einen Teil der Gesellschaft zunächst in Wallung versetzen, am Ende aber zu einer Befriedung führen, weil viele einsehen würden, dass die Impfung nichts Schlimmes sei, vermutete Söder.

„Wir können uns von den Hardcore- und Radikalgruppen nicht unter Druck setzen lassen, das geht einfach nicht“, konstatierte der CSU-Politiker, der sich hierin, wie schon zuvor bei der Impfpflicht, mit seinem sozialdemokratischen Kollegen einig war.

„Das sind Menschen, die diese Achtung nicht verdienen“
„Der Staat darf sich nicht erpressen lassen“, stellte SPD-Mann Lauterbach klar. „Es ist absolut indiskutabel, dass wir einen Abstrich an unsere Gesetzeskompetenz machen, wenn wir unter Druck der Straße sind. Das sind Menschen, die diese Achtung nicht verdienen, definitiv nicht“, lautete sein unmissverständliches Urteil.

Die Einführung einer Impfpflicht werde „weniger spalten als eine ewige Debatte darüber“, zeigte sich auch Gammelin überzeugt. Zugleich appellierte die Journalistin der „Süddeutschen Zeitung“ an die gesellschaftlichen Akteure, etwa die Kirchen, in Gegenden mit niedriger Impfquote eine gemeinsame Anstrengung zu unternehmen, um die Leute mitzunehmen.

Vorsichtiger Widerspruch gegen die umstrittene Maßnahme kam einzig von Kuhle, der nur die einrichtungsbezogene Impfpflicht für Pflegepersonal uneingeschränkt unterstützen wollte. „Ich kann Ihnen heute nicht sagen, ob ich am Ende für eine allgemeine Impfpflicht stimmen werde oder nicht“, sagte der FDP-Politiker und verwies auf das Fehlen eines konkreten Konzepts. Er stelle sich diesbezüglich Fragen wie jene nach der freien Wahl des Impfstoffs, der Berücksichtigung neuer Impfstoffe sowie der Information und Beratung der Bürger.

Impfpflicht hat Akzeptanz- und Terminproblem
„Wir haben jetzt keine Zeit mehr, noch darüber zu debattieren“, wandte hingegen Notfallmedizinerin Holzner mit Verweis auf die vollen Krankenhäuser ein. Außerdem verwies die Medizinerin darauf, dass es ein hausgemachtes Problem mit der Akzeptanz der Impfpflicht gebe, weil diese lange von der Politik – darunter auch von den Talkteilnehmern Söder und Lauterbach – ausgeschlossen oder abgelehnt worden sei.

Der Einwurf von Moderatorin Will, dass die Impfpflicht frühestens im kommenden Februar oder März in Kraft treten könnte, offenbarte ein weiteres Defizit im Kampf gegen die akuten Missstände. Das Kalkül, so wurde wiederum aus den Worten Lauterbachs klar, beruht nicht zuletzt auf ihrer vorauseilenden Wirkung: Die allgemeine Impfpflicht werde schon dann wirken, wenn klar sei, dass sie demnächst greife, weil viele einsähen, dass sie um eine Impfung nicht umhinkämen. Ein großer Anteil Hoffnung also für eine Maßnahme, die vielen gegenwärtig selbst als letzte Hoffnung erscheint.

„Doc Caro“ setzt dagegen weiterhin auf Überzeugungsarbeit. Sie sagte in der Sendung, sie könne „neun von zehn“ Menschen von einer Impfung überzeugen. Am Ende von „Anne Will“ durfte sie erklären, wie sie in ihrem Alltag mit Impfskeptikern umgeht.

Wichtig sei ein Vier-Augen-Gespräch. „Ich sage denen ganz einfach: Du hast die Wahl, du kannst dich infizieren oder du kannst dich impfen lassen und wahrscheinlich auch infizieren, aber nicht schwer erkranken.“ Als Gegenargument höre sie dann, warum man sich überhaupt impfen lassen sollte, wenn man sich eh infiziere. Sie entgegne, dass das Risiko bei einem Ungeimpften um ein Vielfaches höher sei, im Krankenhaus zu landen.

Nächstes Gegenargument seien dann Nebenwirkungen der Corona-Impfung. „Wenn ich mich impfen lasse, gebe es die und die Nebenwirkung, wenn ich mich nicht impfen lasse, habe ich das nicht“, höre sie da oft. „Dann sage ich: Das stimmt so nicht“, erklärte Holzner weiter und verwies auf eine Studie. Die zeige, dass bei einer Infektion das Risiko einer Herz-Muskel-Entzündung um ein Vielfaches höher sei als nach einer Impfung. Außerdem erkläre sie den Prozess hinter den mRNA-Impfstoffen. „Und da kriege ich doch tatsächlich den ein oder anderen.“