Die Politik steckt in der Sackgasse

Die Impfpflicht wäre eine Bankrotterklärung der Pandemiepolitik und des rechtlichen Umgangs mit dieser Krise. Aber möglicherweise endet die Ausgrenzung Ungeimpfter ohne sie nicht. Der ausdrückliche Impfzwang ist paradoxerweise grundrechtsschonender als die aktuelle Situation, in der sich der Staat in Gänze aus der Verantwortung zieht.

Quelle: https://www.cicero.de/innenpolitik/diskussion-um-gesetzliche-impflicht-die-politik-steckt-in-der-sackgasse

Die Politik hat sich selbst in Geiselhaft genommen. Sie hat sich zur Gefangenen ihrer eigenen Versprechen gemacht und sich dabei derart verrannt, dass sie mit jedem Tag weiteren Schaden anrichtet. Den Ungeimpften hat sie versichert, dass es keine Impfpflicht geben werde und den Geimpften, dass sie ihre Freiheit zurückbekämen. Der Versuch der Einhaltung des zweiten Versprechens führte zum Bruch des ersten.

Die Impfpflicht ist längst Realität. Lediglich im Hinblick auf die Durchsetzung und der Vollstreckung bestehen zwischen einer ausdrücklichen und der aktuellen faktischen Impfpflicht noch Unterschiede. Für die Ungleichbehandlung Geimpfter und Ungeimpfter werden im Wesentlichen zwei Argumente angeführt: Das erste Argument, dass Geimpfte vernachlässigbar zum Infektionsgeschehen beitrügen, ist inzwischen widerlegt.

Das zweite Argument, dass Geimpfte ein reduziertes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf und damit für eine potenzielle Belastung des Gesundheitssystems haben, hat eine gewisse Berechtigung. Da Menschen ohne Risikofaktoren statistisch ohnehin ein sehr geringes Risiko für einen derartig schicksalshaften Verlauf haben, ist eine spürbare Wirkung des Ausschlusses jedoch allenfalls bei ungeimpften Menschen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Verlauf anzunehmen. Im Ergebnis bleibt als Begründung damit nur der Fremdschutz in Form des Schutzes vor Überlastung der Krankenhäuser.

Das erste Versprechen – keine Impfpflicht – wurde bereits im letzten Jahr gegeben. Jens Spahn bekräftigte am 18. November 2020: „Ich gebe Ihnen mein Wort: Es wird in dieser Pandemie keine Impfpflicht geben.“ Er erneuerte es jüngst am 11. November 2021 und zeigte dabei auf unangebrachte Weise auf, dass eine ausdrückliche Impfpflicht in letzter Konsequenz unmittelbaren körperlichen Zwang bedeuten kann: „Ich habe das Bild schon vor Augen, wie wir Sahra Wagenknecht dann mit der Landespolizei zum Impfen schleppen. Das ist absurd, eine allgemeine Impfpflicht wäre nicht durchzusetzen. Das würde unser Land zerreißen.“

Der Mensch als soziales Wesen
Das Bild ist insoweit irritierend, als dass es bislang in der bundesdeutschen Geschichte keine Impfpflicht gab, die mittels körperlichen Zwangs vollstreckt wurde. Vielmehr wird zwischen der direkten Impfpflicht, die mit einer Bußgeldandrohung einhergeht, und der indirekten Impfpflicht, die über Zugangsbeschränkungen sanktioniert wird (vgl. hierzu Stephan Rixen), unterschieden. Vor diesem Hintergrund hat Spahns Gewaltbild mit der Rechtsrealität nichts gemein.

Das Versprechen, dass es keine Impfpflicht geben würde, wurde durch die Normativität des Faktischen durch 2G- oder 3G-Regeln in vielen Bereichen widerlegt. Zum Beispiel wurde Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, im Homeoffice zu arbeiten, mit dem Ende der Lohnersatzleistung für Ungeimpfte in Quarantänefällen ein existenzbedrohliches Risiko aufgebürdet. Ungeimpften Studentinnen und Studenten wurde durch verpflichtendes 3G ohne kostenlose Tests das Studium aus finanziellen Gründen erschwert bis verunmöglicht. In der Wirkung sind die hiesigen Beschränkungen zu vergleichen mit dem Verbot für Kinder, eine Kindertagesbetreuung aufzusuchen, wenn sie nicht gegen Masern geimpft sind.

Auch ist es keine ernsthafte Alternative, den Ausschluss aus dem öffentlichen Leben hinzunehmen. Zwar wird auf diese Weise niemand zur Impfung gezwungen; allerdings ist der Preis für die „freie“ Impfentscheidung die Aufgabe eines Teils des Seins, nämlich der Existenz als soziales Wesen. Von Kultur, Gastronomie, Sport und Unterhaltung ausgeschlossen, wird der Mensch auf seine bloße physische Existenz zurückgeworfen. Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts umfasst das menschenwürdige Existenzminimum ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Mit 2G werden Ungeimpfte von jenem Mindestmaß an Teilhabe jedoch ausgeschlossen, sodass der Ausschluss Ungeimpfter als menschenverachtend angesehen werden kann.

Die schon staatlicherseits erheblich unter Druck gesetzten Nichtgeimpften werden zudem – erheblich aufgestachelt durch Medien und Politik – zusätzlich der gesellschaftlichen Ächtung preisgegeben. Die faktische Impfpflicht wird so durch die rechtlich nicht vorgesehenen Mittel der sozialen Ächtung und der sozialen Kontrolle sanktioniert.

Inzwischen ist der schiere Hass auf Ungeimpfte (hier, hier und hier) derart salonfähig geworden, dass der Weltärztebund-Chef Frank Ulrich Montgomery bei Anne Will widerspruchslos von einer angeblichen „Tyrannei der Ungeimpften“ sprechen konnte – eine Polemik, die sogar von Karl Lauterbach kritisiert wurde. Deutliche Kritik gegen diesen gesellschaftlichen „Trend“, wie jene des Autors Ortwin Rosner, sind allerdings die Ausnahme: Anfang Oktober 2021 prangerte er scharf die Verrohung des öffentlichen Diskurses an und skizzierte, wie Ungeimpfte als Sündenböcke für die unhaltbaren Versprechen (z.B. Herdenimmunität) der Corona-Politiker herhalten müssen.

Die Sicherheitsspirale dreht sich weiter
Mit der nun angedachten 2G-Plus-Regel kratzen die Politikerinnen und Politiker auch an ihrem zweiten zentralen Versprechen: die Rückgabe der Freiheit für Geimpfte. Viele Menschen haben sich nicht etwa aus Gründen der vielbeschworenen Solidarität impfen lassen und schon gar nicht um ihrer eigenen Gesundheit willen, sondern um „ihre Freiheiten“ zurückzubekommen, deren Erhalt Spahn noch Ende August 2021 versprach. Ein Versprechen mit kurzer Halbwertzeit. Nunmehr fordert Spahn, dass sich auch Geimpfte für Veranstaltungen wieder testen lassen sollen und Markus Söder möchte trotz 2G die Maskenpflicht wieder einführen.

Es sind Vorstöße, die epidemiologisch im Hinblick auf die Eindämmung der Verbreitung des Virus durchaus Sinn ergeben. Allerdings werden Geimpfte nun letztlich so behandelt wie zuvor Ungeimpfte. Das gebrochene Versprechen soll offensichtlich damit kompensiert werden, dass Ungeimpfte weiterhin ausgeschlossen werden, damit sich Geimpfte immer noch „privilegiert“ fühlen können. Diesem Ansinnen steht die Rechtswidrigkeit auf die Stirn geschrieben, da der Impfstatus ersichtlich keinen Unterschied für die Ansteckbarkeit machen kann und das Risiko der Ansteckungsfähigkeit quasi ausgeschlossen ist, wenn es am Ende auf die Vorlage eines negativen Schnelltests ankommt.

Das Restrisiko, das es ob der Unsicherheiten des Schnelltests im Hinblick auf das Erkennen einer Infektiosität gibt –  wobei grundsätzlich derartige Tests eine hohe Viruslast sehr zuverlässig anzeigen –, erscheint im Ergebnis jedoch hinnehmbar, da nicht damit zu rechnen ist, dass unter solchen Bedingungen zu viele Menschen gleichzeitig schwer an Covid-19 erkranken.

Die Sicherheitsspirale dreht sich indes unaufhörlich weiter: Während im letzten Herbst/Winter weder Antigenschnelltests noch Impfungen zur Verfügung standen und bis Ende Januar 2021 jedwede Mund-Nasen-Bedeckung ausreichte, stehen wir heute vor einer gänzlich anderen Situation: Knapp 86 Prozent der Über-60-Jährigen sind vollständig geimpft, wobei diese Begrifflichkeit mit den Boosterimpfungen auch ins Wanken gekommen ist. Die Impfquote der Gesamtbevölkerung liegt bei fast 70 Prozent, und es gibt ausreichend Schutzausrüstung und Tests. Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt gekommen, langsam, trotz der steigenden Infektionszahlen, den Kompass wieder Richtung Normalität auszurichten? Das Virus wird endemisch, und es gibt lediglich die Wahl zwischen einer Infektion mit oder ohne Impfung.

Die Grundidee der freiheitlichen Ordnung
Aller Vernunft zum Trotz führte die Friedrich-Alexander-Universität als erste deutsche Universität 2G ein und lässt Ungeimpfte nicht mehr in den Hörsaal. Sie dürfen lediglich digital teilnehmen. Die roten Linien unseres freiheitlichen Staates fallen inzwischen im Sekundentakt. Die Wertmaßstäbe haben sich dabei derart verschoben – so sprach sich Ethikratmitglied Henn etwa für eine Ausreiseverbot für Ungeimpfte aus –, dass die Debatte darüber, wie wir zukünftig leben wollen, dringender denn je ist.

Wollen wir wirklich in einem Staat leben, der bei jeder unserer Tätigkeiten die Möglichkeit der Überwachung hat? Wollen wir in einem Staat leben, in dem wir uns permanent als „ungefährlich“ ausweisen müssen? Wollen wir Strukturen schaffen, die der Allmacht des Staates Vorschub leisten? Wollen wir den Staat aus seiner Begründungspflicht für Freiheitsbeeinträchtigungen entlassen, wann immer er Sicherheitsmaximierung propagiert? Wollen wir die Basis unserer Rechtsordnung, die Anerkennung der Selbstbestimmungsfähigkeit aller mündigen Bürgerinnen und Bürger, verleugnen? Wir müssen über unser Verhältnis zur Freiheit und zur (vermeintlichen) Sicherheit sprechen, denn die Entwicklungen der letzten Monate stellen die Grundidee der freiheitlichen Ordnung in Frage.

Geimpfte tragen zum Infektionsgeschehen bei
Stillschweigend hat sich nämlich die Bewertung der Bedeutung verschiedener Grundrechte verschoben. Verstehen wir die Verfassung als äußerste Grenze des rechtsstaatlichen Rahmens, ist festzustellen, dass in diesem Rahmen vieles rechtlich möglich ist. So ist etwa die „Ehe für alle“ genauso von unserem Grundgesetz gedeckt, wie es deren Nichtexistenz war. Während – ebenfalls verfassungsrechtlich akzeptabel – bis vor kurzem das Dogma der „Eigenverantwortung“ Anwendung fand und in der Sozialpolitik der massive Rückbau des Sozialstaats durch die Einführung von Hartz IV betrieben wurde, so dreht sich in Bezug auf die Gesundheit die Wertung ins gerade Gegenteil. Hier soll der Staat paternalistisch sein und das Leben und die Gesundheit der Menschen um jeden Preis schützen.

Auch die Rechtsprechung geht diesen Weg mit und segnet die gefährliche politische Ignoranz medizinischer Fakten im Hinblick auf den Aspekt der Verbreitung des Virus durch Geimpfte (hier, hier und hier) ab, was spürbare Konsequenzen zeitigt. So beschlossen die Gesundheitsministerinnen und -minister erst Anfang November, dass in vulnerablen Einrichtungen alle Besucher unabhängig vom Impfstatus getestet werden müssen. Noch immer müssen sich geimpfte Beschäftigte allerdings nicht täglich testen, obwohl es auf der Hand liegt, dass hier zum Schutze der Bewohnerinnen und Bewohner zwingend eine 1G-Regelung einzuführen ist.

Hätten sich die Gerichte ernsthaft mit den jeden Tag drängenderen Hinweisen darauf beschäftigt – inzwischen hat auch das RKI seine Aussagen relativiert  –, dass Geimpfte zum Infektionsgeschehen beitragen, dann hätten sie der Ungleichbehandlung, die vor allem in vulnerablen Einrichtungen, also an einem Ort, an dem sich hilfsbedürftige Menschen nicht selbst schützen können, was fatal sein kann, ein Ende bereitet. Danach hätte der Verordnungsgeber die Wahl gehabt: Tests für alle oder niemanden anzuordnen.

Dass 2G faktisch eine Durchseuchung der Gesellschaft bedeutet, liegt für informierte Menschen auf der Hand. Transparent darüber aufgeklärt haben die Verantwortlichen die Bevölkerung indes nicht. Vielmehr wurde sie mit dem Verzicht auf Abstand und Maske bei 2G-Veranstaltungen in einer gefährlichen Scheinsicherheit gewogen. Die Politik tat so, als ginge geimpfte Menschen die Pandemie nichts mehr an. Dass das keineswegs so ist, stellte auch Christian Drosten jüngst klar.

Impftlicht als einzig würdige Option
Ungeimpfte werden jeden Tag weiter bedrängt, beschimpft und, da die Regeln auch Auswirkungen auf das Berufsleben haben, in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. Ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, ganz ungeniert begründete vor einigen Tagen der Bielefelder Oberbürgermeister Pit Clausen (SPD) die 2G-Regelung mit der Druckwirkung auf Ungeimpfte und gab zugleich zu, dass 2G nicht mehr Sicherheit bedeute. Damit ist der Anspruch einer plausiblen sachlichen Begründung von Maßnahmen aufgegeben und die Übergriffigkeit des Staates als Erziehungsberechtigter seiner Bürgerinnen und Bürger offen propagiert.

Faktisch bleiben der Politik nur zwei Möglichkeiten: entweder die Ausgrenzung der Ungeimpften sofort zu beenden – wofür ich entschieden plädiere – und zum Beispiel zu einer 1G- Regel (nur getestet) vorübergehend bei Großveranstaltungen und in vulnerablen Einrichtungen (nicht etwa im Hotel oder im Restaurant, wo das Ansteckungsrisiko niedrig bzw. moderat ist) überzugehen. Oder das Kind beim Namen zu nennen und im Bundestag eine Impfpflicht zu beschließen – und damit eine verfassungsrechtlich kaum haltbare Regelung in ein Parlamentsgesetz zu gießen, eine Klageflut zu provozieren und die Verfassungsgerichtsbarkeit auf den Plan zu rufen.

Da ich befürchte, dass sich die Politik indes, getrieben von sich selbst, von der Bevölkerung und von den Medienschaffenden, an ihrem Narrativ – dass die Impfung die Lösung aller Probleme sei (welche genau und wie viele davon?) – festhalten wird, glaube ich nicht daran, dass sie sich von der Gängelung der Ungeimpften lösen kann, sodass nur noch eine würdige Option bliebe: die ausdrückliche Impfpflicht.

Denn erst dann kann sich die Bevölkerung gegen den Impfzwang, dem sie schon jetzt faktisch ausgeliefert ist, juristisch angemessen zur Wehr setzen. Aktuell behaupten die Gerichte nämlich nach wie vor, dass es sich bei der Entscheidung für oder gegen die Impfung um eine freie Entscheidung handle, und legen infolgedessen nicht die äußerst strengen Voraussetzungen an, die an eine gesetzliche Impfpflicht zu stellen wären. Der Zustand, den wir jetzt haben, ist insbesondere aus juristischer Sicht unbefriedigend, denn die faktische Impfpflicht ist gravierender als die gesetzliche, da sie kaum angreifbar ist.   

Der Betroffene wird zum Objekt herabgewürdigt
Eine ausdrückliche allgemeine Impfpflicht halte ich jedoch aus den von der Universitätsprofessorin Katrin Gierhake herausgearbeiteten Gründen für rechtswidrig: Es besteht keine allgemeine Bedrohungslage, da es so gut wie keine Kontraindikationen für die Impfung zum Selbstschutz gibt. Die Impfstoffe verhindern zudem weder die Infektion noch die Weitergabe des Virus, sodass eine Ausrottung des Erregers, was bislang das Ziel jeder deutschen Impfpflicht war, nicht erreicht werden kann. Ferner lässt die Schutzwirkung der Impfung rasch nach, es kann zudem zu erheblichen Nebenwirkungen bis zum Tod kommen und über mögliche Spätfolgen kann derzeit keine Aussage gemacht werden (vgl. z.B. Narkolepsie bei Pandemrix).

Die mögliche Ampel-Koalition diskutiert eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, und Markus Söder zieht eine Impfpflicht für Fussballprofis in Betracht, obwohl sich beide Gedanken unter Berücksichtigung dessen, dass die Impfung in erster Linie ein Selbstschutz und kein Fremdschutz darstellt, offensichtlich verbietet. Sinnvoll wäre dabei allenfalls – aber auch hier sehe ich die Voraussetzungen für eine Impfpflicht im Ergebnis für nicht gegeben an –, nur jene Menschen zur Impfung zu verpflichten, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf und damit für die Belastung des Gesundheitssystems haben. Das sind insbesondere ältere sowie stark übergewichtige Menschen.

Es wird unter Juristen sodann zu diskutieren sein, ob eine Art Aufopferungsanspruch gegeben ist. Schließlich ist es zum Beispiel im Rahmen des rechtfertigenden Notstands nicht erlaubt, einem Menschen zwangsweise zur Lebensrettung eines anderen Menschen gegen seinen Willen Blut zu entnehmen, da dieser Eingriff gegen die Menschenwürde verstößt. Der Betroffene wird so nämlich zum bloßen Objekt herabgewürdigt. Ähnliches könnte hier gelten.

Denn das Argument, dass mit der Impfung die Weiterverbreitung des Virus unterbunden wird, trägt nicht mehr, sodass einzig das Argument des Selbstschutzes zum Fremdschutz bleibt. Somit wird der Betroffene nur noch als potenzielle Belastung für das Gesundheitssystem betrachtet. Spätestens an dieser Stelle muss man einwenden, dass es aber die Aufgabe des Staates ist, das Gesundheitssystem so auszustatten, dass es auch einer Krisensituation wie dieser begegnen kann – zumal er inzwischen 20 Monate Zeit hatte und es unentschuldbar ist, dass er stattdessen über 5000 (ca. 25 Prozent!)  Intensivbetten mangels Personals abgebaut hat. Das ist der eigentliche Skandal, der letztlich als Staatsversagen bezeichnet werden muss.

Heute Mehrheit, morgen Minderheit
Der Staat darf die Lösung des Problems nämlich nicht ohne weiteres auf die Bevölkerung abwälzen. Eine Impfpflicht kann nur ultima ratio sein. Das heißt: Hier müsste zum Beispiel überlegt werden, ob es nicht milder wäre, zunächst allen das Motorradfahren zu verbieten, allen Übergewichtigen aufzugeben, jetzt mit dem Abnehmen zu beginnen (was auch zu überwachen wäre), und so weiter. Wir sollten uns jedoch fragen, ob wir wirklich damit beginnen wollen, Menschen nach ihrer potenziellen Belastung für das Gesundheitssystem zu kategorisieren.

Die Geschichte hat eines gezeigt: Rechte, die sich der Staat einmal genommen hat, gibt er regelmäßig nicht zurück. Wer glaubt, es handle sich um einen Ausnahmezustand, verkennt zudem, dass Grundrechte auch und gerade in Krisenzeiten gelten müssen, denn sonst sind sie nichts wert. Verträge schließt man gerade für den Fall der Krise. Das Grundgesetz ist nichts anderes als ein Vertrag. Ein Gesellschaftsvertrag, in dem die verbindlichen Eckpfeiler unseres Miteinanders geregelt sind. Wer ihn aufkündigt, begibt sich in die Gefahr, selber nicht mehr darauf zugreifen zu können, wenn er ihn einmal braucht. Wer heute der Mehrheit angehört, kann schon morgen als Angehöriger einer Minderheit aufwachen.  

Frieden mit dem Eingriff schließen
Die Impfpflicht wäre eine Bankrotterklärung der Pandemiepolitik und des rechtlichen Umgangs mit dieser Krise. Aber möglicherweise endet die Ausgrenzung Ungeimpfter ohne sie nicht. Mein Vertrauen darauf, dass das Bundesverfassungsgericht im Eilverfahren eine Impfpflicht stoppen würde, hält sich in Grenzen, aber ich sehe keinen anderen Weg mehr, gegen die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung juristisch vorzugehen. Es handelt sich hierbei um einen der massivsten Grundrechtseingriffe, nämlich in die Integrität des Körpers, der die Menschenwürde berührt.

Es wäre gleichwohl die redlichere Variante. Jüngst kamen zwei junge Menschen auf mich zu. Der eine bereut die Impfung: Seit der Impfung habe er Herzrasen; er habe sich nur impfen lassen, um wieder unterwegs zu sein und zur Universität gehen zu können. Eine andere hat die Impfung zwar physisch gut überstanden, aber der Umstand, dass sie sich nur deshalb hat impfen lassen, um zur Universität gehen zu dürfen, hat mentale Probleme verursacht.

Der ausdrückliche Impfzwang ist paradoxerweise grundrechtsschonender als die aktuelle Situation, in der sich der Staat in Gänze aus der Verantwortung zieht. Durch eine gesetzliche Impfpflicht nimmt man den Menschen die Verantwortung für diese „freie“ Entscheidung und erhöht so die Chance, dass sie mit einem Eingriff, den sie nicht möchten, Frieden schließen können; selbst falls es zu einem Impfschaden kommt. Denn sie müssen sich dann nicht den Vorwurf machen, sich „freiwillig“ geschädigt zu haben. Sie würden nämlich vom Staat dazu gezwungen werden und könnten sich mit allen in einem Rechtsstaat vorgesehenen Möglichkeiten zur Wehr setzen.

Falls sie dann in letzter Instanz verlören, müssten sie sich fügen. Vorwürfe müssen sich dann nur jene machen, die für eine solche Pflicht gestimmt oder sie „gehalten“ haben.  Eine echte Impflicht ist im Ergebnis daher genauso falsch und vermutlich verfassungswidrig wie die aktuelle faktische Impfpflicht – aber immerhin wäre sie ehrlich.