„Grob fahrlässig“: Freiburger Medizinstatistiker kritisiert Corona-Politik in BW

Die Zahl der Corona-Intensivpatienten nähert sich dem Grenzwert für die „Alarmstufe“. Doch das allein kann nicht der Maßstab für Beschränkungen sein, so Medizinstatistiker Antes.

Der Freiburger Medizinstatistiker Gerd Antes wirft der baden-württembergischen Landesregierung einen „unprofessionellen“ Umgang mit der Corona-Situation vor. Die hohen Infektionszahlen seien erwartbar gewesen, trotzdem gebe es keine sinnvollen Maßstäbe für die Corona-Politik. „Wir sind in einer Datenerfassungs-Katastrophe, sodass uns die Steuerungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen oder auch von uns selbst nicht geschaffen wurden“, so Antes.

Quelle: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/medizinstatistiker-antes-haelt-corona-politik-in-bw-fuer-grob-fahrlaessig-100.html

Gerd Antes ist Mathematiker und Medizinstatistiker. Er war Leiter des Deutschen Cochrane Zentrums am Universitätsklinikum Freiburg und ist Experte im Bereich evidenzbasierte Medizin. Antes war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte und Kommissionen, unter anderem der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut.

"Mehr Fälle auf Intensivstationen bedeuten nicht zwingend mehr Todesfälle"
Die Belastung der Intensivstationen, die aktuell maßgebend für die Corona-Maßnahmen ist, ist laut Antes relativ. Volle Intensivstationen bedeuteten nicht automatisch hohe Zahlen bei Todesfällen und folgen nicht zwangsläufig den Infektionszahlen. "In dem Moment, in dem die Fälle auf den Intensivstationen nicht so schwer verlaufen, liegen die Patienten viel länger in der Klinik. Das führt dann natürlich zu einer höheren Belegung bei gleichzeitiger Verringerung der Todeszahlen." Solche Belegungsdaten gehören aus seiner Sicht ebenfalls in die Corona-Informationspolitik.

Alle Informationen zu Corona-Infizierten, die nicht das Alter der Person berücksichtigten, können grob irreführend sein. "Es gibt nicht 'den Infizierten' und gerade die jungen Infizierten landen wesentlich weniger auf der Intensivstation, aber selbst da haben wir gegenwärtig nicht die exakten Zahlen, um das genau einschätzen zu können. Genau so wichtig sind präzise Informationen zum Impfstatus oder über einen möglichen Migrationshintergrund und Sozialstatus, um daraus Hinweise für gezielte Impfaktivitäten zu erlangen."

Laut Landesgesundheitsamt lagen am Dienstag 356 Patientinnen und -Patienten auf den Intensivstationen in Baden-Württemberg. Die Alarmstufen-Marke beträgt 390. Wird diese Zahl an zwei aufeinanderfolgenden Werktagen erreicht oder überschritten, treten automatisch schärfere Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie in Kraft. Im Moment gilt in Baden-Württemberg die sogenannte Corona-Warnstufe, die schon für viele Ungeimpfte Beschränkungen mit sich bringt.

Antes: Land stand nie vor Zusammenbruch des Gesundheitssystems
Es ist nicht das erste Mal, dass Antes den Umgang mit Corona-Zahlen kritisiert. Im Mai dieses Jahres etwa verteidigte er das Thesenpapier einer Gruppe von Medizinern und Forschern, welches die Intensivkapazität in Deutschland infrage stellt. Zwar arbeite das Personal in Kliniken teilweise über die Belastungsgrenze hinaus, dennoch hätte das Land nie kurz vor einem Zusammenbruch seines Gesundheitssystems gestanden, so der Statistiker.

Situation an Schulen: Verschärfung der Corona-Regeln?
Auch die aktuelle Corona-Politik an den Schulen in Baden-Württemberg sieht Antes kritisch. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) hat angesichts der steigenden Corona-Fälle bereits vergangene Woche eine vorzeitige Rückkehr zur Maskenpflicht in den Klassenzimmern bei Kindern und Jugendlichen nicht ausgeschlossen. Die Zahl der infizierten Schülerinnen und Schüler habe parallel zum Anstieg des gesamten Infektionsgeschehens zugelegt. Strengere Maßnahmen an Schulen, etwa eine mögliche Wiedereinführung der Maskenpflicht, hält Antes für falsch. Er spricht sich auch gegen eine Impfung für Kinder aus - diese hätten in der Regel keine schweren Verläufe zu befürchten.

Fokus auf vulnerable Gruppen setzen
Aufgrund der enormen Altersabhängigkeit bei der Gefährdung ist es laut Antes jetzt wichtiger, dass die Politik sich gezielt auf die vulnerablen Gruppen konzentriert und beispielsweise mit hoher Priorität in Pflegeheimen die Booster-Impfungen verabreicht. "Jetzt haben wir natürlich auch eine Zunahme bei den Älteren, weil man 'vergessen' hat, zu boostern. Auch das ist wieder grob fahrlässig von der Politik." Das hieße unter anderem, dass man auch vor Ort gewisse Dinge umorganisieren müsse. Dass etwa Pflegeheimbewohner, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, nicht von ungeimpften Pflegekräften betreut werden - so wie es in Krankenhäusern bereits seit Längerem der Fall sei.

Antes: Es fehlt das übergeordnete Ziel in der Corona-Politik
Generell sieht Antes die Politik mit ihrem Corona-Kurs auf dem falschen Weg. "Natürlich will die Politik so wenig Tote und Patienten auf den Intensivstationen wie möglich, aber was heißt das? Das heißt nicht, um jeden Preis Infektionen zu vermeiden, weil damit das Problem auf ewig verlängert wird", sagt Antes.

Es brauche eine Immunisierung der Gesellschaft. "Wenn wir sagen, wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, dann heißt das, dass die kontrollierte Infizierung in irgendeiner Form passieren muss." Es sei unvermeidlich, dass sich jeder über kurz oder lang mit dem Virus infizieren wird, auch die Geimpften, nur dass diese vor einem schweren Verlauf besser geschützt sind. Der Weg zur Normalität verlaufe seiner Ansicht nach über die Immunisierung durch Impfung und natürliche Immunisierung nach Infektion.