Rechtmäßigkeit und Semantik der Impfpflicht

Mit Fortschreiten der COVID-19-Impfkampagne haben die Diskussionen darüber zugenommen, ob sich das Ziel einer hinreichenden Durchimpfung der Bevölkerung allein durch Impfangebote, also auf freiwilliger Basis, oder nur über eine Impfpflicht erreichen lässt. Unter den gegenwärtigen tatsächlichen Bedingungen und im Hinblick auf die derzeit absehbaren tatsächlichen Entwicklungen wird sich eine staatlich angeordnete („indirekte“) Impfpflicht in verfassungsgemäßer Weise nicht rechtfertigen lassen.

Quelle: https://verfassungsblog.de/rechtmaessigkeit-und-semantik-der-impfpflicht/

Rechtmäßigkeit und Semantik der Impfpflicht
Zur aktuellen Diskussion über eine Pflicht zur COVID-19-Impfung
Mit Fortschreiten der COVID-19-Impfkampagne haben die Diskussionen darüber zugenommen, ob sich das Ziel einer hinreichenden Durchimpfung der Bevölkerung allein durch Impfangebote, also auf freiwilliger Basis, oder nur über eine Impfpflicht erreichen lässt. Unter den gegenwärtigen tatsächlichen Bedingungen und im Hinblick auf die derzeit absehbaren tatsächlichen Entwicklungen wird sich eine staatlich angeordnete („indirekte“) Impfpflicht in verfassungsgemäßer Weise nicht rechtfertigen lassen.

Auf dem Weg zur Zielimpfquote
„Vaccine hesitancy – the reluctance or refusal to vaccinate despite the availability of vaccines –“ ist, worauf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon länger hinweist, nicht erst seit COVID-19 ein Problem. Dass Impfzurückhaltung auch ein Problem bei der Eindämmung der Ausbreitung von COVID-19 werden würde, kann also nicht verwundern. Am 26. Juli 2021 waren 49,7 % der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft und 61,0 % hatten mindestens eine Impfdosis erhalten. Nach dem gegenwärtigen Wissensstand hält das Robert Koch-Institut (RKI) eine „Zielimpfquote (Impfschutz durch vollständige Impfung) von 85% für die 12-59-Jährigen sowie von 90% für Personen ab dem Alter von 60 Jahren für notwendig und auch erreichbar“. Die damit einhergehende breite Grundimmunität werde jedoch, so das RKI, vermutlich im Herbst/Winter 2021/2022 noch nicht erreicht sein; die bis dahin zu erwartende Impfquote von ca. 70-80% unter den Erwachsenen werde nicht ausreichen (weitere aktuelle Daten zum Impfverhalten hält das RKI bereit). Damit stellt sich die Frage, wie die Impfquote erhöht werden kann und wie dazu eine wie auch immer ausgestaltete Impfpflicht beitragen kann.

Keine generelle Impfpflicht durch Rechtsverordnung?
Eine generelle Impfpflicht kann nicht durch eine auf § 20 Abs. 6 oder Abs. 7 Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützte Rechtsverordnung entweder des Bundesministeriums für Gesundheit (Abs. 6) oder der Landesregierungen bzw. der Landesgesundheitsministerien (Abs. 7 i.V.m. Abs. 6) eingeführt werden, denn das setzte im Lichte der Wesentlichkeitstheorie eine parlamentsgesetzlich spezifischere Regelung voraus (Gebhard, in: Kießling [Hrsg.], IfSG, Kommentar, 2020, § 20 Rn. 34 m.w.N.). Ganz abgesehen davon sind die Rechtsverordnungsermächtigungen für „Notfälle“ (BT-Drucks. 3/1888, S. 23) gedacht, wie die Begründung zum früheren Bundes-Seuchengesetz betont, auf die sich die Begründung zum Infektionsschutzgesetz der Sache nach bezieht (vgl. BT-Drucks. 14/2530, S. 72). Dass die Zustimmung des Bundesrates zur Rechtsverordnung verzichtbar ist (§ 20 Abs. 6 Satz 3 in Verbindung mit § 15 Abs. 2 IfSG), unterstreicht den Charakter der Bestimmung als Auffangregelung für akute, kaum vorhersehbare bzw. planbare Situationen. Hinter § 20 Abs. 6 IfSG steht die Vorstellung, dass die epidemiologische Lage sich so rasant entwickelt, dass nur durch eine qua Rechtsverordnung geschaffene Impfpflicht adäquat auf die Lage reagiert werden kann. Eine solche Zuspitzung ist aber derzeit wenig wahrscheinlich, zumal der 19. Deutsche Bundestag bis zum Zusammentritt des am 26.9.2021 neu gewählten Bundestages (vgl. Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG) jederzeit einberufen werden kann. Er ist auch in der Lage, wie nicht zuletzt das „Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 22.4.2021 (BGBl. I S. 802, „Bundesnotbremse“) gezeigt hat, innerhalb weniger Tage weitreichende Entscheidungen zu treffen.

Berufsbezogene Impfpflichten
Eine tätigkeits- bzw. berufsbezogene Impfpflicht auf § 20 Abs.6 oder Abs. 7 IfSG zu stützen, ist unter anderem deswegen problematisch, weil der Verordnungsgeber (von weiteren Voraussetzungen abgesehen) nur anordnen kann, dass „bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen […] teilzunehmen haben“ (§ 20 Abs. 6 Satz 1 IfSG). Schon unter Gleichheitsgesichtspunkten (Art. 3 Abs. 1 GG) wird es nicht einfach sein, die bedrohten Teile der Bevölkerung berufsbezogen zu definieren (Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Aufl. 2021, S. 168). Auch die Frage, was genau mit „berufsbezogen“ gemeint ist (alle Tätigkeitsfelder? Nur solche mit einem erkennbaren Infektionsrisiko, in diesem Sinne also nur wesentliche Tätigkeiten?), ist so leicht nicht zu beantworten. Außerdem müsste, was bislang noch kaum geschieht, diskutiert werden, ob „bedroht“ auf eine gesteigerte, also qualifizierte Gefahr der Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 und damit der Erkrankung an COVID-19 verweist, die für die jeweils adressierte Berufsgruppe jedenfalls hinsichtlich wesentlicher Tätigkeitsbereiche besteht.

Eine parlamentsgesetzliche Regelung einer tätigkeitsbezogenen Impfpflicht, die es bislang nur hinsichtlich der Masern gibt (vgl. § 20 Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 IfSG), dürfte letztlich wegen ihrer arbeitsrechtlichen Brisanz politisch alternativlos sein. Bislang kennt das Arbeitsschutzrecht keine Impfpflicht (vgl. § 6 Abs. 2 Satz 3 ArbMedVV und i.V.m. Nr. 4.2 Abs. 3 Satz der Arbeitsmedizinischen Regel [AMR] 6.5). Die Masernimpfpflicht bildet eine Ausnahme, die zwar nicht formell zum Arbeitsschutzrecht zählt, der Sache nach aber schon1).

Impfungen im Arbeitsleben
Auch die schwer verständliche Regelung des § 23a IfSG schafft keine Impfpflicht in dem Sinne, dass in den in § 23 Abs. 3 IfSG genannten Gesundheitseinrichtungen – stationäre Pflegeeinrichtungen etwa für alte Menschen („Altenheime“) sind übrigens nicht erfasst (vgl. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 11 IfSG) – nur Geimpfte tätig sein dürfen. Nach einer mehr versteckten als veröffentlichten gemeinsamen Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) gewährt § 23a IfSG ein verklausuliert geregeltes Fragerecht der Arbeitgeberin bzw. des Arbeitgebers. Sie bzw. er darf unter strikter Beachtung der Erforderlichkeit (§ 23a Satz 1 IfSG) bei der Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses oder im Rahmen eines bereits begründeten Beschäftigungsverhältnisses mit Blick auf die in Rede stehende Tätigkeit einen Impfnachweis verlangen, etwa wenn es um die Tätigkeit auf der Intensivstation eines Krankenhauses geht (vgl. § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 IfSG).

Inwieweit darüber hinaus Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber von den Beschäftigten Impfungen verlangen dürfen oder nicht, ist in der arbeitsrechtlichen Literatur umstritten2). Schon die häufig übersehene Regelung des § 23a IfSG deutet darauf hin, dass eine berufsbezogene Impfpflicht mit all ihren brisanten (etwa kündigungsrechtlichen) Aspekten parlamentsgesetzlich geregelt werden muss. Das verlangt m.E. die aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht zugunsten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bzw. von Beamtinnen und Beamten, für die Art. 12 Abs. 1 GG bekanntlich auch gilt (vgl. nur BVerfGE 139, 19, Rn. 58). Der Versuch, unter dem Radar der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände und letztlich auch des BMAS im Gewand einer gesundheitsrechtlichen Regelung eine arbeits(schutz)rechtliche Regelung zu erlassen (wie bei der Einführung der Masernimpfpflicht geschehen), darf im Interesse einer differenzierten Würdigung der in Rede stehenden Interessen nicht noch einmal erfolgreich sein. Die nicht trivialen personalrechtlichen Fragen, die sich bei der Umsetzung der Masernimpfpflicht ergeben (wenn etwa Lehrerinnen oder Lehrer sich nicht impfen lassen wollen oder wenn von Polizistinnen oder Polizisten, die in Einrichtungen nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSG Abschiebungen vollziehen sollen, die Masernimpfung verlangt wird), sollten eine Mahnung sein, nicht nur die Verfassungs-, sondern auch die Zweckmäßigkeit einer COVID-19-Impfpflicht – nicht der Impfung! – genau zu prüfen.

„Direkte“ oder „indirekte“ Impfpflicht?
Was aber charakterisiert eine Impfpflicht? Der Begriff ist semantisch unklar. Meistens benennt er das staatlich angeordnete Gebot, sich impfen zu lassen und die Impfung nachzuweisen. Wahlweise wird als Synonym das Wort „Impfzwang“ verwendet. Der Begriff „Impfzwang“ ist irreführend, weil es zumindest nicht regelhaft (dazu mit Blick auf den Zusammenhang von Masernimpfpflicht und möglicher Kindeswohlgefährdung Rixen, in: Huster/Kingreen [Hrsg.], Handbuch Infektionsschutzrecht, 2021, Kap. 5 Rn. 85) darum geht, Menschen unter Anwendung körperlichen Zwangs einer (Zwangs-)Impfung auszusetzen, sondern darum, dass sie ihre Einwilligung in eine Impfung erteilen, um ansonsten in Aussicht gestellte Nachteile zu vermeiden.

Beide Begriffe – Impfpflicht oder, als Synonym, Impfzwang – werden häufig mit Vokabeln wie „direkt“ oder „indirekt“ kombiniert. Diese Adjektive wollen zum Ausdruck bringen, wie der durch den in Aussicht gestellten Eintritt von Nachteilen vermittelte willensbeugende Druck wirkt. Während das Adjektiv „direkt“ einen relativ leicht erkennbaren manifesten Fremdzwang bezeichnet, verweist das Wort „indirekt“ auf einen mehr oder weniger sanften Selbstzwang, den das Individuum als quasiautonomes Abwägungskalkül vollziehen soll3).

In diesem Sinne „direkt“ wirkt etwa die staatlich angeordnete Rechtspflicht, eine Impfung nachzuweisen, die mit einer Bußgeldandrohung versehen wird4). „Indirekt“ wirken hingegen gesetzliche Regelungen, die ungeimpften Personen der Zugang zu Einrichtungen verweigern, die für ihre Lebensführung bedeutsam sind (vgl. beispielhaft die Regelungen über die Masernimpfpflicht, § 20 Abs. 8 ff. IfSG). Die Adressatinnen oder Adressaten der Norm werden gedrängt abzuwägen, was ihnen wichtiger ist: der Zugang zur Einrichtung um den Preis der Impfung oder der Verzicht auf die Impfung um den Preis, den Zugang zur Einrichtung zu verlieren. Nachteile lassen sich auch kombinieren, wie das bei der Durchsetzung der Masernimpfpflicht der Fall ist, wo zwar nicht die Vornahme bzw. der Nachweis der Impfung für sich betrachtet bußgeldbewehrt ist oder zwangsweise durchgesetzt werden kann, wohl aber Verfügungen seitens der zuständigen Behörden, die zur Vornahme der Impfung drängen, und dies nachgelagert durch Bußgelder abgesichert wird5).

Das Adjektiv „indirekt“ kann allerdings auch, wie die bisherigen Debatten belegen, die Konstellation bezeichnen, dass nicht der Staat, sondern materiell Private (zum Beispiel Gastronominnen, Hoteliers, Kulturschaffende im Musik- oder Theaterbereich) in Ausübung der Privatautonomie den Zugang zu Leistungen bzw. Gütern vom Nachweis der Impfung abhängig machen. In ähnlicher Weise kann das Wort „indirekt“ die Konstellation bezeichnen, dass der Staat den Zugang zu Leistungen bzw. Gütern, die materiell Private anbieten, in der Weise reguliert, dass nur die nachgewiesene Impfung den Zugang ermöglicht. Vermutlich in diesem Sinne – ganz klar wird das nicht – meint der Chef des Bundeskanzleramtes mit Blick auf möglicherweise steigende Infektionszahlen: „Das kann auch bedeuten, dass gewisse Angebote wie Restaurant-, Kino- und Stadionbesuche selbst für getestete Ungeimpfte nicht mehr möglich wären, weil das Restrisiko zu hoch ist“ . Hierzu hat der Bundesinnenminister schon vor Monaten bemerkt: „Eine Unterscheidung zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften kommt einer Impfpflicht gleich.“ Was der Chef des Bundeskanzleramtes vorschlägt, lässt sich also im Sinne der vorstehenden Unterscheidungen als staatlich angeordnete „indirekte“ Impfpflicht qualifizieren. Die entsprechenden Regelungen würden dann vermutlich in den Corona-Verordnungen der Länder getroffen (vgl. § 11 Satz 1 COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung – SchAusnahmV).

Grundrechtliche Bedenken
Grundrechtsdogmatisch stellen sich hier zahlreiche Fragen. Auf der Basis des weiten, modernen Eingriffsbegriffs6), scheint mir ein Eingriff mindestens in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) oder vorrangig in das speziellere Recht auf körperliche Unversehrtheit in seiner Bedeutung als Selbstbestimmungsrecht über den Körper (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nahezuliegen (je nach Konstellation und Kontext werden auch noch andere Grundrechte in Betracht kommen). Ungeachtet der ebenfalls vertiefungsbedürftigen Frage, ob unter den Bedingungen der Pandemiebewältigung eine abwehrrechtliche Betrachtung strenger ausfallen muss als eine Betrachtung am Leitfaden der grundrechtlichen Schutzpflicht, ist, gemessen am Verhältnismäßigkeitsprinzip, vor allem zu klären, ob der Eintritt eines Nachteils mit Blick auf die Gefahrensituation, die ja zunächst genau umschrieben werden müsste, erforderlich und zumutbar ist. Dass eine („indirekte“) Impfpflicht nach den Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung „geeignet“ ist, zumal unter Beachtung des gesetzgeberischen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums, dürfte nach dem jetzigen Wissensstand jedenfalls für Personen ab dem Alter von 12 Jahren nach Maßgabe der STIKO-Empfehlungen zu bejahen sein. Dass die Impfung gegen COVID-19 vor schweren Verläufen von COVID-19 schützt und auch die Wahrscheinlichkeit der Infektion anderer reduziert, ist – Stand heute – unstreitig. Die Annahme, dass von einer („indirekten“) Impfpflicht ein besonderer Motivationsdruck ausgeht, sich impfen zu lassen, und dadurch das Erreichen der Zielimpfquote gefördert werden kann, ist nicht abwegig.

Ich habe in erster Linie Bedenken unter dem Aspekt der Erforderlichkeit. Kann die Verbreitung des Virus in Restaurants, Kinos oder Sportstadien – um die Beispiele des Chefs des Bundeskanzleramtes aufzugreifen – tatsächlich nur durch die Erfüllung einer („indirekten“) Impfpflicht wirksam verhindert werden? Lässt sich für jede ungeimpfte, aber verlässlich getestete Person, die sich an die inzwischen üblichen Schutzmaßnahmen hält, nachvollziehbar annehmen, sie infiziere andere und verschlimmere so das Infektionsgeschehen? Und kann – das ist letztlich der primäre Regelungszweck – nur durch die in Aussicht gestellte Verweigerung des Zugangs zu Leistungen bzw. Gütern die Zielimpfquote erreicht werden? Gibt es keine gleich wirksamen, aber weniger einschneidenden Instrumente, diese Quote zu erreichen, damit Gesundheitsgefährdungen (auch durch eine Überlastung des Gesundheitssystems) weithin ausgeschlossen werden können? Und was ist eigentlich mit denen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können? Sollen sie wirklich denen gleichstellt werden, die sich impfen lassen könnten, es aber nicht wollen? Welcher sachliche Grund sollte das rechtfertigen?

Impfzurückhaltung grundrechtsschonend überwinden
In der Literatur wird m.E. zu pauschal abgestritten, dass es gleich wirksame, grundrechtsschonendere Instrumente gibt (vgl. nur Pieper/Schwager-Wehming, DÖV 2021, 287, 292). Ich glaube, dass dies nicht nur die handfesten praktischen Hindernisse übersieht, die zur Impfzurückhaltung führen können, sondern darüber hinaus auch, dass bereits vielfach Möglichkeiten genutzt werden, die Impfzurückhaltung ohne Negativanreize zu überwinden, das aber eben noch nicht flächendeckend und koordiniert genug geschieht. So stellt sich bereits die Frage, wie Menschen in adressatengerechter Weise erreicht, also über die Impfung und vorhandene Impfangebote – nicht nur pro forma, sondern bezogen auf ihren Verständnishorizont und ihre Lebensbedingungen – informiert werden können. Eine auf der Höhe der Zeit praktizierte Gesundheitskommunikation kennt viele Möglichkeiten, wie die psychologische Forschung von Cornelia Betsch und ihrem Team belegt. Die Zugangshürden betreffen auch, aber nicht nur Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind oder in geschlossenen Milieus leben, die von den üblichen medialen Kanälen, zumal wenn sie nur auf Deutsch kommunizieren, nicht erreicht werden. Menschen mit eingeschränkter Alltagsbewältigungskompetenz, die viele Ursachen haben kann, tun sich auch mit der Absprache und der Einhaltung von Impfterminen deutlich schwerer als Menschen, die ihr Leben dank günstiger Rahmenbedingungen und der dazu passenden Fähigkeit zum Selbstmanagement gut organisieren können. Ganz unterschiedlich motivierte Vergesslichkeit, Saumseligkeit und Verdrängung spielen eine Rolle, aber auch fehlende effektive Recall-Systeme, die zum Beispiel app-gestützt an Impftermine erinnern. Auch die SMS-Benachrichtigungen durch Impfzentren sind ein gelungenes Beispiel. Hinzu kommt die Erreichbarkeit von impfenden Ärztinnen und Ärzten, etwa indem mobile Impfgelegenheiten in Wohngebieten, an Bahnhöfen oder in unmittelbarer Nähe von Möbelhäusern („Impf-Drive-in“) oder in Einkaufszentren geschaffen werden, die sogar ohne vorab vereinbarte Impftermine genutzt werden können. Die Zahl fundamentalistischer Impfgegnerinnen und Impfgegner wird im Übrigen vielfach überschätzt. Sie dürfte, worauf Cornelia Betsch hinweist, bei 2-5% der Bevölkerung liegen, was in Relation zur Zielimpfquote gesetzt werden muss. So sehr die Problematik der strikten Impfgegnerschaft irritieren muss7), darf sie doch mit Blick auf das Erreichen der Zielimpfquote nicht überschätzt werden.

Ein niedrigschwelliger Zugang zur Impfung ist möglich, und wenn der Eindruck nicht täuscht, besteht da in der laufenden Impfkampagne noch „Luft nach oben“. Solange die Möglichkeiten, durch erleichterten Zugang zur Impfung die Impfzurückhaltung zu überwinden, nicht vollumfänglich genutzt werden, scheint es mir nicht problemadäquat, über Negativanreize wie eine („indirekte“) Impfpflicht nachzudenken. Der weite Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist kein Freifahrtschein für regulatorische Reisen ins Blaue hinein: Dem „Gesetzgeber [steht] nicht nur bei der Festlegung der von ihm ins Auge gefassten Regelungsziele, sondern auch bei der Beurteilung dessen, was er zur Verwirklichung dieser Ziele für geeignet und erforderlich halten darf, ein weiter Einschätzungs- und Prognosespielraum zu […], der vom Bundesverfassungsgericht je nach der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden kann […]“ (BVerfGE 110, 141, Rn. 66, kursive Hervorhebungen hinzugefügt). Wer sich kein hinreichend sicheres Urteil über die Effektivität milderer Maßnahmen bildet, sondern direkt auf Negativanreize setzt, ohne deren bessere Effektivität auch nur ansatzweise belegen zu können, entscheidet sich, gemessen am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, für nicht erforderliche Maßnahmen.