Frank Fehrenbach über das „Bild aus Bergamo“, oder: „The common bond is the movie theatre“

Die Krisen der Neuzeit bringen regelmäßig ikonische Bilder hervor, aber in der aktuellen Auseinandersetzung mit der Pandemie kommt es wohl erstmals dazu, dass bereits der sprachliche Verweis auf einen ominösen Bilderberg zum Topos wird: „Die Bilder aus Bergamo“. Kaum eine Debatte, die ohne diese Formel auskommt: „Immer wieder verweist Laschet auf Bilder im März aus Bergamo, wo Militärfahrzeuge Leichen abtransportierten – diese Bilder schufen eine neue Lage.“ (>>) – „Die Bilder aus Bergamo haben die Wenigsten noch präsent. Dabei ist das um die Ecke.“ (>>) – „Wir haben die Bilder in Bergamo gesehen, und wir hätten es als deutsche Bevölkerung ethisch kaum ausgehalten, wenn es bei uns solche Szenen gegeben hätte.“ (>>)

Mit den „Bildern aus Bergamo“ sind drei Sujets angesprochen. Das erste – eine dichte Reihung von Särgen, angeblich in einer Kirche der Stadt – wurde inzwischen als fake news entlarvt, weil die Bilder in Wirklichkeit 2013 auf der Insel Lampedusa aufgenommen worden waren. (>>) Die Bilder des zweiten Motivs, die das Drama der überfüllten und improvisierten Intensivstationen in Bergamo dokumentieren, erlangten keinen ikonischen Status, weil sie nicht spezifisch genug waren: Ähnliche Szenen finden zu jeder Zeit in Krankenhäusern der ganzen Welt statt. Erst das dritte Bildthema – ein nächtlicher Konvoi von Militärlastern, die Leichen aus der Stadt bringen – ‚ging viral’. Zumeist bezieht sich die vage Rede von den „Bildern aus Bergamo“ auf dieses Motiv.

Quelle: https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-movie-theatre/


Genau genommen handelt es sich um ein einziges Bild. Es wurde am Abend des 18.3. von dem 28-jährigen Ryanair-Flugbegleiter Emanuele di Terlizzi aufgenommen (Abb.1). Lucien Scherrer hat in der NZZ vom 30.5. die Entstehungsgeschichte und die Verbreitungsdynamik des Handy-Fotos ausführlich rekonstruiert. (>>) Auffällig ist die Bedeutungsverschiebung, die das martialische Motiv gleich nach seiner digitalen Verbreitung erfuhr. Als der Augenzeuge seinen Schnappschuss ins Netz stellte, ging er noch davon aus, dass es sich um militärische Hilfe für den Aufbau eines Notkrankenhauses handelte; ein vergleichsweise banales Sujet. Erst ungenannte Distributoren des Bildes wussten Bescheid. Ein einziger digitaler super-spreader erreichte noch am selben Abend mit dem korrekt bezeichneten Bild über sein soziales Netzwerk rund 2500 followers. Am nächsten Morgen schlug die mediale „Bombe“ (di Terlizzi) ein und wurde zur entscheidenden „Zäsur“ (Scherrer) in der weltweiten medialen Aufmerksamkeitslenkung. Das „Symbolbild des Todes“ (>>) scheint in seiner Wirkmacht den brennenden Doppeltürmen von 9/11 nahe zu kommen. Es braucht wenig prophetische Gabe um zu vermuten, dass man sich an genau dieses Bild erinnern wird, wenn man an den „schwarzen Schwan“ COVID-19 zurückdenkt.

Das vom Balkon aufgenommene Foto zeigt eine angeschnittene Reihe von sieben bis neun Militärfahrzeugen auf einer ansonsten unbefahrenen Straße. Die eng hintereinander und daher wohl sehr langsam fahrenden Lastwagen passieren eine Reihe akkurat geparkter Kleinwagen, die dem Konvoi ihre Kühlerfront in der Bewegungsrichtung zuwenden. Einige erleuchtete Fenster im Hintergrund deuten an, dass sich dort Menschen im Innern ihrer Wohnhäuser aufhalten. Die Perspektive erzeugt eine stark fallende Diagonale von rechts oben nach links unten. Der Fotograf versuchte offensichtlich, möglichst viele Fahrzeuge abzubilden. In Wirklichkeit bestand der Konvoi aus dreizehn Lastwagen, aber der dramatische Schnitt des Bildes erzeugt den Eindruck einer unendlich langen Kolonne. Damit löste das Bild weltweit Entsetzen aus. Die Konnotation war eindeutig: Die Zustände in Bergamo sind so schlimm, dass die Armee die überwältigende Zahl der Pandemie-Opfer abtransportieren muss. Die Kraft des Bildes beruht auf der (scheinbaren) Kontingenz des Ausschnitts, der fallenden Diagonale (gegen die Leserichtung) und der Menschenleere, die zum Eindruck einer anonymen nächtlichen Militäraktion beiträgt: eine zuschauerlose pompe funèbre ohne Anfang und Ende.

Es ist die Crux dokumentarischer Bilder, dass sie auf Kontextualisierung ganz besonders angewiesen sind. Wir wissen heute, warum das Militär zum Einsatz kam. Dies geschah nicht primär wegen der Zahl der Verstorbenen; solche Mortalitätsschübe sind auch bei regulären Grippewellen, deren Opferzahlen in Italien häufig erstaunlich hoch liegen, nicht unüblich. (>>) Der Schluss auf Leichenberge, die nur noch von Soldaten weggeschafft werden können, geht ebensosehr in die Irre wie die Vermutung, dass die Gruppenbegräbnisse von Holt Island – ein ebenfalls stark zirkulierendes Motiv – den Kollaps des Funeralbetriebs in New York dokumentieren. (>>) Dort enthüllten die Drohnenaufnahmen eine lange bestehende Praxis, für die man sich bisher kaum interessiert hatte: die Bestattung von Armen und Obdachlosen ohne Angehörige durch inmates der Gefängnisinsel. Ähnlich wie bei diesen Bildern dokumentiert das „Bild aus Bergamo“ vor allem die Kontingenzen der sozialen Wirklichkeit, nicht den virusinduzierten Systemkollaps, der zum Zivilisationsbruch führt.

Das italienische Militär wurde in der Nacht vom 18.3. in Bergamo (und danach in einigen anderen italienischen Städten) nicht eingesetzt, um überwältigend viele Leichen abzutransportieren, sondern aus Angst vor dem „Killervirus“ (>>). Den Angehörigen, die allesamt in strenger Quarantäne verharren mussten, war es bei Androhung drakonischer Strafen verboten, sich wie sonst üblich um ihre Verstorbenen zu kümmern. Lokale Akteure beschlossen die unverzügliche Einäscherung der Seuchenopfer. Weil normalerweise lediglich knapp die Hälfte der Verstorbenen kremiert werden, reichten die Kapazitäten des Ofens im Zentralfriedhof von Bergamo nicht aus. Die Leichen mussten also zu Friedhöfen in der Umgebung gebracht werden. Logistisch und sicherheitstechnisch war dazu anscheinend nur das italienische Heer in der Lage. Der nächtliche Transport, der dem makabren Bild die unvergleichliche Dramatik gibt, geschah vor allem, um den Vorgang so gut wie es ging zu verheimlichen. (>>) Erreicht wurde damit das Gegenteil. Die Wucht des Bildes korreliert direkt mit der Praxis der Vertuschung und der mangelhaften Ausstattung mit banalen Atemschutzmasken insbesondere in Alters- und Pflegeheimen, die inzwischen als Kernproblem nicht nur des italienischen Seuchendramas klar erkennbar sind. (vgl. >>)

Eine „Zurückhaltung im Bildgebrauch“ beobachtet Johannes Grave im Hinblick auf die unablässigen Vergleiche, die in der aktuellen Pandemie gezogen werden. (>>) Man könnte hier fragen, ob fotografische Vergleiche bei krisenhaften Zuspitzungen überhaupt nur durch explizite Gegenüberstellung funktionieren. Ohne Zweifel stehen aber Bilder in der aktuellen, von einem unsichtbaren Virus bestimmten Lage nicht mehr länger im Vordergrund, solange sie nicht die allgegenwärtige Fixierung auf Zahlen diagrammatisch umsetzen. Die Corona-Krise ist auch dadurch gekennzeichnet, dass Bilder durch die Entleerung des öffentlichen Raums und das social distancing nicht mehr zur Dramatisierung taugen; ein schlagender Gegensatz zur Triebkraft des Visuellen, der bei ‚normalen’ Krisen die politischen Entscheidungsträger häufig atemlos folgen. Umgekehrt ließe sich sagen: Das Vermeiden anstößiger, traumatischer Bilder als Hauptmotiv politischen und administrativen Handelns wird durch den lockdown erleichtert, der dadurch als Hebel zur Reduzierung des medialen und öffentlichen Drucks auf die Politik erscheint. Nur ein großer player auf der Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit, die katholische Kirche, hat die Kraft der Bilder bewusst eingesetzt und damit als Gestaltungsfeld wahrgenommen, aber auch dies geschah vorwiegend zu Beginn der Pandemie. (>>) Inzwischen triumphieren Zahlen und Worte, denn auch die Diagramme verlieren dort an Interesse, wo „die Kurve flach wird“. Die Nationen hängen stattdessen an den Lippen ihrer Chef-Virologen. Und am 24.5.2020 verwandelte die New York Times ihre Titelseite in eine bilderlose ‚Bleiwüste’ mit Kurz-Nachrufen auf 1000 Corona-Tote, die von Kommentatoren sofort mit den anikonischen Namenslisten des Vietnam-Memorials (Krieg), von Yad Vashem (Holocaust) und des 9/11-Memorials (Terrorismus) verglichen wurden – ein höchst problematischer Vergleich. (>>)
Noch immer aber spielen die vielbeschworenen „Bilder aus Bergamo“ eine entscheidende Rolle für die Einhaltung seuchenpolitischer Maßnahmen. Der unablässige, warnende Hinweis auf „die Bilder“ könnte der Tatsache geschuldet sein, dass keine einzelne dieser Fotografien die erklärungsfreie Wucht des Ikonischen für sich beanspruchen kann. Am ehesten rührt noch der nächtliche Zug der Militärfahrzeuge zu den Krematorien der Umgebung an diese Evidenz. Das Bild ist auch deshalb so stark, weil damit andere, historische Bilder von Zivilisationsbrüchen assoziativ aufgerufen werden: etwa die lange Reihe von Särgen, die aus dem befreiten Auschwitz getragen wurden, und das Krematorium, in das man dort die Ermordeten zuvor verbracht hatte. Die kategorische Differenz der jeweiligen Kontexte besitzt in der latenten Gewalt einen vagen gemeinsamen Fluchtpunkt, der die Aufmerksamkeit fesselt. Eine Balance zwischen Panik und Vorsicht, zwischen Affizierung und Distanzierung durch Bilder, wie sie Franca Buss und Philipp Müller vor kurzem brillant postulierten (>>) wird man beim Umgang mit dem „Bild aus Bergamo“ aber nicht erkennen können. Der Horror, den es erzeugt, verdankt sich der Tatsache, dass es so wenig zeigt. Das macht seine allgegenwärtige Instrumentalisierung als Bild einer vagen und zugleich schrecklichen Bedrohung so einfach wie verlockend.

Immer wieder wurde zurecht betont, wie die New Yorker Flugzeugattentate vom 11.9.2001 in ungezählten Filmbildern antizipiert wurden. Die Einholung der Bilder durch die Realität verstärkte den visuellen Schock. Auch in „Bergamo“ stand Hollywood Pate. Vier Tage vor „dem Bild“ meldete „Netflix“, dass Wolfgang Petersens Pandemie-Drama „Outbreak“ von 1995 auf dem neunten Rang der meistgesehenen Filme der Video-Plattform stand und tagesaktuell den fünften Rang einnahm. „Outbreak“ antizipiert die „Bilder von Bergamo“ mit seinem nächtlichen Einmarsch des Heeres in die friedliche, vom tödlichen Virus heimgesuchte Kleinstadt „Cedar Creek“ in Nordkalifornien und mit den anschließenden chaotischen Szenen im örtlichen Krankenhaus, wo sich die Schwerkranken auf den Fluren drängen (Abb. 2-4); das Heer übernimmt im Film auch den Abtransport der Leichen. Der Film enthält zentrale Textpassagen der anschließenden politischen Medienstrategie. „We are at war, Billy!“, ereifert sich der sinistre General McClintock, der das Virus, seine perfekte Biowaffe, vor dem Zugriff der Virologen retten will.


Die Krisen der Neuzeit bringen regelmäßig ikonische Bilder hervor, aber in der aktuellen Auseinandersetzung mit der Pandemie kommt es wohl erstmals dazu, dass bereits der sprachliche Verweis auf einen ominösen Bilderberg zum Topos wird: „Die Bilder aus Bergamo“. Kaum eine Debatte, die ohne diese Formel auskommt: „Immer wieder verweist Laschet auf Bilder im März aus Bergamo, wo Militärfahrzeuge Leichen abtransportierten – diese Bilder schufen eine neue Lage.“ (>>) – „Die Bilder aus Bergamo haben die Wenigsten noch präsent. Dabei ist das um die Ecke.“ (>>) – „Wir haben die Bilder in Bergamo gesehen, und wir hätten es als deutsche Bevölkerung ethisch kaum ausgehalten, wenn es bei uns solche Szenen gegeben hätte.“ (>>)

Mit den „Bildern aus Bergamo“ sind drei Sujets angesprochen. Das erste – eine dichte Reihung von Särgen, angeblich in einer Kirche der Stadt – wurde inzwischen als fake news entlarvt, weil die Bilder in Wirklichkeit 2013 auf der Insel Lampedusa aufgenommen worden waren. (>>) Die Bilder des zweiten Motivs, die das Drama der überfüllten und improvisierten Intensivstationen in Bergamo dokumentieren, erlangten keinen ikonischen Status, weil sie nicht spezifisch genug waren: Ähnliche Szenen finden zu jeder Zeit in Krankenhäusern der ganzen Welt statt. Erst das dritte Bildthema – ein nächtlicher Konvoi von Militärlastern, die Leichen aus der Stadt bringen – ‚ging viral’. Zumeist bezieht sich die vage Rede von den „Bildern aus Bergamo“ auf dieses Motiv.

Genau genommen handelt es sich um ein einziges Bild. Es wurde am Abend des 18.3. von dem 28-jährigen Ryanair-Flugbegleiter Emanuele di Terlizzi aufgenommen (Abb.1). Lucien Scherrer hat in der NZZ vom 30.5. die Entstehungsgeschichte und die Verbreitungsdynamik des Handy-Fotos ausführlich rekonstruiert. (>>) Auffällig ist die Bedeutungsverschiebung, die das martialische Motiv gleich nach seiner digitalen Verbreitung erfuhr. Als der Augenzeuge seinen Schnappschuss ins Netz stellte, ging er noch davon aus, dass es sich um militärische Hilfe für den Aufbau eines Notkrankenhauses handelte; ein vergleichsweise banales Sujet. Erst ungenannte Distributoren des Bildes wussten Bescheid. Ein einziger digitaler super-spreader erreichte noch am selben Abend mit dem korrekt bezeichneten Bild über sein soziales Netzwerk rund 2500 followers. Am nächsten Morgen schlug die mediale „Bombe“ (di Terlizzi) ein und wurde zur entscheidenden „Zäsur“ (Scherrer) in der weltweiten medialen Aufmerksamkeitslenkung. Das „Symbolbild des Todes“ (>>) scheint in seiner Wirkmacht den brennenden Doppeltürmen von 9/11 nahe zu kommen. Es braucht wenig prophetische Gabe um zu vermuten, dass man sich an genau dieses Bild erinnern wird, wenn man an den „schwarzen Schwan“ COVID-19 zurückdenkt.

Abb. 1: Militärfahrzeuge in Bergamo (Foto: NZZ 30.05.2020)
Das vom Balkon aufgenommene Foto zeigt eine angeschnittene Reihe von sieben bis neun Militärfahrzeugen auf einer ansonsten unbefahrenen Straße. Die eng hintereinander und daher wohl sehr langsam fahrenden Lastwagen passieren eine Reihe akkurat geparkter Kleinwagen, die dem Konvoi ihre Kühlerfront in der Bewegungsrichtung zuwenden. Einige erleuchtete Fenster im Hintergrund deuten an, dass sich dort Menschen im Innern ihrer Wohnhäuser aufhalten. Die Perspektive erzeugt eine stark fallende Diagonale von rechts oben nach links unten. Der Fotograf versuchte offensichtlich, möglichst viele Fahrzeuge abzubilden. In Wirklichkeit bestand der Konvoi aus dreizehn Lastwagen, aber der dramatische Schnitt des Bildes erzeugt den Eindruck einer unendlich langen Kolonne. Damit löste das Bild weltweit Entsetzen aus. Die Konnotation war eindeutig: Die Zustände in Bergamo sind so schlimm, dass die Armee die überwältigende Zahl der Pandemie-Opfer abtransportieren muss. Die Kraft des Bildes beruht auf der (scheinbaren) Kontingenz des Ausschnitts, der fallenden Diagonale (gegen die Leserichtung) und der Menschenleere, die zum Eindruck einer anonymen nächtlichen Militäraktion beiträgt: eine zuschauerlose pompe funèbre ohne Anfang und Ende.

Es ist die Crux dokumentarischer Bilder, dass sie auf Kontextualisierung ganz besonders angewiesen sind. Wir wissen heute, warum das Militär zum Einsatz kam. Dies geschah nicht primär wegen der Zahl der Verstorbenen; solche Mortalitätsschübe sind auch bei regulären Grippewellen, deren Opferzahlen in Italien häufig erstaunlich hoch liegen, nicht unüblich. (>>) Der Schluss auf Leichenberge, die nur noch von Soldaten weggeschafft werden können, geht ebensosehr in die Irre wie die Vermutung, dass die Gruppenbegräbnisse von Holt Island – ein ebenfalls stark zirkulierendes Motiv – den Kollaps des Funeralbetriebs in New York dokumentieren. (>>) Dort enthüllten die Drohnenaufnahmen eine lange bestehende Praxis, für die man sich bisher kaum interessiert hatte: die Bestattung von Armen und Obdachlosen ohne Angehörige durch inmates der Gefängnisinsel. Ähnlich wie bei diesen Bildern dokumentiert das „Bild aus Bergamo“ vor allem die Kontingenzen der sozialen Wirklichkeit, nicht den virusinduzierten Systemkollaps, der zum Zivilisationsbruch führt.

Das italienische Militär wurde in der Nacht vom 18.3. in Bergamo (und danach in einigen anderen italienischen Städten) nicht eingesetzt, um überwältigend viele Leichen abzutransportieren, sondern aus Angst vor dem „Killervirus“ (>>). Den Angehörigen, die allesamt in strenger Quarantäne verharren mussten, war es bei Androhung drakonischer Strafen verboten, sich wie sonst üblich um ihre Verstorbenen zu kümmern. Lokale Akteure beschlossen die unverzügliche Einäscherung der Seuchenopfer. Weil normalerweise lediglich knapp die Hälfte der Verstorbenen kremiert werden, reichten die Kapazitäten des Ofens im Zentralfriedhof von Bergamo nicht aus. Die Leichen mussten also zu Friedhöfen in der Umgebung gebracht werden. Logistisch und sicherheitstechnisch war dazu anscheinend nur das italienische Heer in der Lage. Der nächtliche Transport, der dem makabren Bild die unvergleichliche Dramatik gibt, geschah vor allem, um den Vorgang so gut wie es ging zu verheimlichen. (>>) Erreicht wurde damit das Gegenteil. Die Wucht des Bildes korreliert direkt mit der Praxis der Vertuschung und der mangelhaften Ausstattung mit banalen Atemschutzmasken insbesondere in Alters- und Pflegeheimen, die inzwischen als Kernproblem nicht nur des italienischen Seuchendramas klar erkennbar sind. (vgl. >>)

Eine „Zurückhaltung im Bildgebrauch“ beobachtet Johannes Grave im Hinblick auf die unablässigen Vergleiche, die in der aktuellen Pandemie gezogen werden. (>>) Man könnte hier fragen, ob fotografische Vergleiche bei krisenhaften Zuspitzungen überhaupt nur durch explizite Gegenüberstellung funktionieren. Ohne Zweifel stehen aber Bilder in der aktuellen, von einem unsichtbaren Virus bestimmten Lage nicht mehr länger im Vordergrund, solange sie nicht die allgegenwärtige Fixierung auf Zahlen diagrammatisch umsetzen. Die Corona-Krise ist auch dadurch gekennzeichnet, dass Bilder durch die Entleerung des öffentlichen Raums und das social distancing nicht mehr zur Dramatisierung taugen; ein schlagender Gegensatz zur Triebkraft des Visuellen, der bei ‚normalen’ Krisen die politischen Entscheidungsträger häufig atemlos folgen. Umgekehrt ließe sich sagen: Das Vermeiden anstößiger, traumatischer Bilder als Hauptmotiv politischen und administrativen Handelns wird durch den lockdown erleichtert, der dadurch als Hebel zur Reduzierung des medialen und öffentlichen Drucks auf die Politik erscheint. Nur ein großer player auf der Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit, die katholische Kirche, hat die Kraft der Bilder bewusst eingesetzt und damit als Gestaltungsfeld wahrgenommen, aber auch dies geschah vorwiegend zu Beginn der Pandemie. (>>) Inzwischen triumphieren Zahlen und Worte, denn auch die Diagramme verlieren dort an Interesse, wo „die Kurve flach wird“. Die Nationen hängen stattdessen an den Lippen ihrer Chef-Virologen. Und am 24.5.2020 verwandelte die New York Times ihre Titelseite in eine bilderlose ‚Bleiwüste’ mit Kurz-Nachrufen auf 1000 Corona-Tote, die von Kommentatoren sofort mit den anikonischen Namenslisten des Vietnam-Memorials (Krieg), von Yad Vashem (Holocaust) und des 9/11-Memorials (Terrorismus) verglichen wurden – ein höchst problematischer Vergleich. (>>)
Noch immer aber spielen die vielbeschworenen „Bilder aus Bergamo“ eine entscheidende Rolle für die Einhaltung seuchenpolitischer Maßnahmen. Der unablässige, warnende Hinweis auf „die Bilder“ könnte der Tatsache geschuldet sein, dass keine einzelne dieser Fotografien die erklärungsfreie Wucht des Ikonischen für sich beanspruchen kann. Am ehesten rührt noch der nächtliche Zug der Militärfahrzeuge zu den Krematorien der Umgebung an diese Evidenz. Das Bild ist auch deshalb so stark, weil damit andere, historische Bilder von Zivilisationsbrüchen assoziativ aufgerufen werden: etwa die lange Reihe von Särgen, die aus dem befreiten Auschwitz getragen wurden, und das Krematorium, in das man dort die Ermordeten zuvor verbracht hatte. Die kategorische Differenz der jeweiligen Kontexte besitzt in der latenten Gewalt einen vagen gemeinsamen Fluchtpunkt, der die Aufmerksamkeit fesselt. Eine Balance zwischen Panik und Vorsicht, zwischen Affizierung und Distanzierung durch Bilder, wie sie Franca Buss und Philipp Müller vor kurzem brillant postulierten (>>) wird man beim Umgang mit dem „Bild aus Bergamo“ aber nicht erkennen können. Der Horror, den es erzeugt, verdankt sich der Tatsache, dass es so wenig zeigt. Das macht seine allgegenwärtige Instrumentalisierung als Bild einer vagen und zugleich schrecklichen Bedrohung so einfach wie verlockend.

Immer wieder wurde zurecht betont, wie die New Yorker Flugzeugattentate vom 11.9.2001 in ungezählten Filmbildern antizipiert wurden. Die Einholung der Bilder durch die Realität verstärkte den visuellen Schock. Auch in „Bergamo“ stand Hollywood Pate. Vier Tage vor „dem Bild“ meldete „Netflix“, dass Wolfgang Petersens Pandemie-Drama „Outbreak“ von 1995 auf dem neunten Rang der meistgesehenen Filme der Video-Plattform stand und tagesaktuell den fünften Rang einnahm. „Outbreak“ antizipiert die „Bilder von Bergamo“ mit seinem nächtlichen Einmarsch des Heeres in die friedliche, vom tödlichen Virus heimgesuchte Kleinstadt „Cedar Creek“ in Nordkalifornien und mit den anschließenden chaotischen Szenen im örtlichen Krankenhaus, wo sich die Schwerkranken auf den Fluren drängen (Abb. 2-4); das Heer übernimmt im Film auch den Abtransport der Leichen. Der Film enthält zentrale Textpassagen der anschließenden politischen Medienstrategie. „We are at war, Billy!“, ereifert sich der sinistre General McClintock, der das Virus, seine perfekte Biowaffe, vor dem Zugriff der Virologen retten will.

Nur zwei Tage vor dem Heereskonvoi von Bergamo bereitete der französische Präsident mit seiner Ankündigung, dass man sich im Krieg befinde, den Boden, auf dem „das Bild aus Bergamo“ einschlagen konnte. Noch am Abend seiner massenmedialen Verbreitung schloss sich Macrons amerikanischer Kollege erwartungsgemäß mit einer Steigerungsformel an: „our big war“. Spätestens in diesem Moment verwandelte sich die Sorge in diffuse Angst; „Bergamo“ erschien als déja-vu von Petersens Klassiker. Die bereits am 16.3. verkündeten Lockdown-Maßnahmen in Deutschland wurden am 23.3. nochmals verschärft, weil man „die Bilder aus Italien, Spanien oder Frankreich […] nicht auch in Deutschland haben [wollte].“(>>) Zu diesem Zeitpunkt war die Reproduktionsrate des Virus, die seit 10.3. stark zurückging, bereits seit mehreren Tagen unter den kritischen Wert von „1“ gefallen (RKI). – Die Ansteckung der Imagination findet durch Bilder statt: „The common bond is the movie theatre“ stellt der Held des Filmes, Colonel Sam Daniels, in einer ebenso hellsichtigen wie metakünstlerischen Bemerkung fest.

Gerade Kriegszeiten, das hat das vergangene Jahrhundert immer wieder bewiesen, sind aber auch Sternstunden der Bürokratie. Inzwischen hat die Stadtverwaltung den Angehörigen der unsichtbaren Toten im „Bild aus Bergamo“ eine üppige Rechnung für die unerbetenen Transport- und Einäscherungsmaßnahmen zukommen lassen. Man mag es für das Hoffnungszeichen einer wiederkehrenden ‚Normalität’ halten, dass sich die Hinterbliebenen sofort organisiert und Klage eingereicht haben. (>>)

Prof. Dr. FRANK FEHRENBACH ist Professor am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Seit 2019 ist er Co-Sprecher der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“, seit 2020 Sprecher des Präsidiums des Hamburger Institute for Advanced Study (HIAS).